Leerer Platz auf dem Podium
Ein Stuhl war frei. Kein Vertreter einer großen Redaktion hatte sich bereit erklärt, sich auf dem Podium der Netzwerk Recherche-Konferenz dem Gespräch zu stellen. Und dabei ging es um nichts weniger als das Vertrauen in die Medien – und darum, wie es gerade beim Thema Israel und Gaza rasant verloren geht.
Der Moderator sprach es gleich zu Beginn an: Man habe versucht, jemanden aus einer Redaktionsleitung zu gewinnen – ohne Erfolg. Ein leerer Platz als Symbol. Und als Einladung, genauer hinzusehen.
Ein Panel mit Brisanz
Das Panel fand am Samstag, den 14. Juni 2025, auf der Jahreskonferenz des Netzwerk Recherche (#NR25) beim NDR Fernsehen in Hamburg statt – einem der wichtigsten Branchentreffen für investigativen Journalismus in Deutschland.
Das Thema: „Deutsche Medien und Nahost: Wie gelingt vertrauenswürdiger Journalismus?“ (Aufzeichnung auf YouTube)
Auf dem Podium saßen:
– Nadia Zaboura, Publizistin und Medienkritikerin
– Armin Ghassim, Journalist beim NDR
Die Moderation übernahm Christopher Resch von Reporter ohne Grenzen.
Das Gespräch war intensiv, offen – und streckenweise erschütternd. Es ging um mediale Ungleichbehandlung, journalistische Doppelstandards, systemische Fehler und eine Berichterstattung, die laut mehreren Studien von weiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr als glaubwürdig empfunden wird.
Verlorenes Vertrauen
Nadia Zaboura bringt es auf den Punkt: „Wir sehen eine massive Glaubwürdigkeitskrise, die durch aktuelle Daten bestätigt wird.“ Sie verweist auf eine Studie ihrer Mainzer Kolleg:innen: Während 47 % der Befragten den Medien grundsätzlich vertrauen, sinkt dieser Wert beim Thema Israel und Gaza auf nur noch 27 %.
Wie kann es sein, dass ausgerechnet im Fall eines so hochrelevanten, politisch brisanten Themas das Vertrauen derart abstürzt?
Einseitige Quellen, fehlende Kontexte
Ein zentraler Kritikpunkt ist die mediale Verengung auf Ereignisse ab dem 7. Oktober 2023 und die Fixierung auf religiöse Konfliktlinien, anstatt die lange historische und geopolitische Dimension des Konflikts zu beleuchten.
„Es gibt eine massive quantitative Disbalance bei den zitierten Quellen“, so Zaboura. „Beiträge stützen sich fast ausschließlich auf Erklärungen des israelischen Militärs. Häufig ohne Einordnung oder Gegenstimmen.“
Ein Beispiel sei eine Headline der Tagesschau, laut der „Israel Hamaskämpfer angreift“, unterlegt mit einem Bild eines zerstörten Pressefahrzeugs. Oder ein veröffentlichter Text, der zu 100 % aus einer Verlautbarung der israelischen Armee stammt – samt eingebettetem Propagandavideo.
„Es ist systemisch.“
Der Moderator Christopher Resch fragt: Handelt es sich um journalistische Fehler – oder um ein strukturelles Problem?
„Wir sind im 20. Monat des Krieges. Dass nach so langer Zeit immer noch so grobe Verstöße gegen journalistische Standards passieren, ist offensichtlich systemisch“, sagt Zaboura. „Und obwohl Kritik geäußert wird – auch öffentlich – passiert nichts.“
Ghassim ergänzt, das Thema Nahost sei „das verminteste Thema der deutschen Gesellschaft“. In diesem Kontext hätten bereits viele Journalist:innen mit Migrationshintergrund ihren Job verloren.
Druck, Schweigen, Sanktionen
„Was passiert eigentlich, wenn du – also Nadia Zaboura – deine Analysen mit Redaktionen teilst?“, fragt Moderator Christopher Resch.
„Gar nichts“, sagt Zaboura. „Das ist das Erschreckende.“
Mehr noch: Journalist:innen, die sie kontaktieren, berichten oft von Angst, internen Reibungen, öffentlichem Druck. Armin Ghassim ergänzt, dass sich viele Kolleg:innen aus migrantischen Communities aus der Berichterstattung zum Nahostkonflikt bewusst heraushalten. Zu groß sei die Gefahr, berufliche Konsequenzen zu erfahren.
„Leute haben ihren Job verloren. Und zwar fast ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund“, sagt Ghassim. Er spricht von einer realen „Cancel Culture“, die sich sehr einseitig auswirkt – etwa dann, wenn Menschen für Aussagen sanktioniert werden, obwohl diesen Aussagen eigentlich viele zustimmen würden.
Doppelte Standards und testimoniales Ungleichgewicht
Ein zentraler Begriff, den Nadia Zaboura einführt, ist testimoniale Ungerechtigkeit – ein Konzept aus der Wissenschaft, das beschreibt, wie bestimmten Menschen per se weniger Glaubwürdigkeit zugesprochen wird.
„Einigen Stimmen wird standardmäßig geglaubt, anderen nicht. Palästinensische Kolleg:innen etwa müssen ihre Aussagen stets mit Belegen unterfüttern, ihre Motive erklären, ihre Integrität beweisen.“
Diese Praxis, so Zaboura, sei Ausdruck eines strukturellen Problems. Eines Problems, das tief in redaktionellen Routinen und auch in rassistischen Stereotypen verankert sei. Und das sich nicht nur auf Betroffene auswirke – sondern auch auf das journalistische Produkt selbst.
„Wenn Kolleg:innen aus Gaza erstmal ihre Glaubwürdigkeit beweisen müssen, bevor sie überhaupt gehört werden, verlieren wir journalistische Tiefe. Wir verlieren Perspektiven.“
Was fehlt, ist historisches Wissen – und Mut.
Eine der Kernfragen: Ist das Thema Nahost wirklich „zu kompliziert“ für differenzierte Berichterstattung?
Zaboura widerspricht: Nein, es sei komplex – aber nicht kompliziert. Vieles liege schlicht am fehlenden Hintergrundwissen. Und daran, dass historische Kontexte in der aktuellen Berichterstattung kaum vorkämen.
„Die Besatzung der palästinensischen Gebiete, die Entstehung der Hamas, die Rolle der israelischen Regierung – all das hat eine Geschichte. Aber viele Redaktionen arbeiten so tagesaktuell, dass das alles nicht mehr erzählt wird.“
Auch auf wissenschaftliche Expertise werde kaum zurückgegriffen. Die Politikwissenschaftlerin Dr. Muriel Asseburg zum Beispiel berate seit Jahren die deutsche Bundesregierung und NGOs, werde aber in den Medien kaum gehört. „Wir haben diese Expertise“, sagt Zaboura. „Aber sie wird nicht eingeladen.“
Ein Gefühl von Vergeblichkeit – und Verantwortung.
Ghassim beschreibt, wie seine Redaktion (u. a. Panorama, STRG_F) zwar immer wieder versuche, differenzierte Berichterstattung zu leisten – aber selbst dann mit Gegenwind konfrontiert sei, wenn man schlicht menschliches Leid auf beiden Seiten zeige.
„Wir haben Opfer auf beiden Seiten gezeigt – und dafür Preise bekommen. Aber ehrlich gesagt: Gefreut haben wir uns nicht. Denn eigentlich sollte das selbstverständlich sein.“
Zaboura ergänzt: Es sei auch eine Frage der emotionalen Ressourcen. Wer täglich mit Massensterben konfrontiert sei – etwa in Gaza – habe vielleicht nicht die Kapazität, das Leid der „anderen Seite“ in vollem Umfang anzuerkennen. Das sei menschlich – und verlange von Journalist:innen Einfühlungsvermögen, nicht moralische Überheblichkeit.
Eigene Beobachtung: Als Zuhörer in einem Raum voller Widersprüche.
Was mich auf diesem Panel am meisten berührt hat, war nicht nur das, was gesagt wurde – sondern wie still es im Raum wurde, wenn es konkret wurde. Wenn Ghassim schilderte, wie Kolleg:innen Jobangebote verlieren. Wenn Zaboura betonte, dass es nicht nur um Berichterstattung, sondern um strukturelle Menschenfeindlichkeit geht.
Ich saß im Publikum, hörte zu, machte mir Notizen. Und spürte: Diese Debatte ist längst überfällig.
Ich habe mehrfach gehört, wie in Redaktionen bestimmte Perspektiven vorsortiert werden, wie vorsichtig Kolleg:innen mit Migrationsgeschichte formulieren, wie selten Stimmen aus Gaza oder der palästinensischen Diaspora in der medialen Mitte ankommen. Und ich frage mich: Wo bleibt die journalistische Selbstreflexion, die wir in anderen Themenfeldern längst eingefordert haben – etwa im Kontext von #MeToo oder Black Lives Matter?
Eine Einladung zur Verantwortung
Der leere Stuhl auf dem Podium – er bleibt hängen. Nicht als bloßes Symbol, sondern als Mahnung.
Ein Teil von mir hat Verständnis: Wer will sich freiwillig in ein Minenfeld setzen, wenn am Ende wieder eine Empörungswelle droht? Aber der andere Teil fragt sich: Was ist denn der Job von Journalist:innen, wenn nicht genau das?
Vertrauen entsteht nicht durch Schweigen. Sondern durch Transparenz, Kontext, Selbstkritik – und das Vertrauen in das Publikum, Komplexität aushalten zu können.
Der Journalismus hat keine Deutungshoheit mehr. Aber er hat immer noch die Chance, Orientierung zu geben. Wenn er bereit ist, zuzuhören – auch Stimmen, denen bisher nicht zugehört wurde.